Mord oder Totschlag: Ein aufheulender Motor als Entscheidungskriterium? BGH Urt. v. 20.06.2024, Az. 4 StR 15/24 - ein Kommentar
Jeder Jurastudent, jeder Rechtsreferendar, jeder Rechtstanwalt, jeder Staatsanwalt, jeder Richter und auch sonst jeder, der sich professionell mit der strafrechtlichen Juristerei befasst, wird im Laufe seiner Karrierre mindestens einmal aus seinem Bekannten- und Freundeskreis mit der Frage nach der Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag konfrontiert. Die Theorien in der Laiensphäre sind vielfältig. Es geht von „Totschlag ist es immer dann, wenn man im Affekt handelt“ über „Mord liegt vor, wenn der Ausführung der Tat eine lange Planung ebendieser vorgeschaltet ist“ bis hin zu „Mord erfordert eine Absicht, während Totschlag auch unabsichtlich geschehen kann“.
Einigkeit besteht zwischen Laien und Juristen in einem Tatbestandsmerkmal: Ein anderer Mensch als man selbst wird getötet. Die Unterscheidung im juristischen Sinn lässt sich - insoweit für jedermann verständlich- anhand des Gesetzes nachvollziehen: Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft, § 212 StGB. Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet, § 211 Abs. 2 StGB. So weit, so klar.
Juristen sprechen in diesem Zusammenhang von sogenannten Mordmerkmalen. Diese sind abschließend in § 211 Abs. 2 StGB aufgelistet. Liegt ein solches vor und gelingt der Staatsanwaltschaft der Beweis hierfür, wird man als Mörder bestraft. Lebenslängliche Freiheitsstrafe. Kompromisslos.
Rechtstheoretiker und Rechtspraktiker streiten indes seit jeher über die Anwendung und Auslegung der Mordmerkmale. In der juristischen Ausbildung kommt man um die Paragrafen 211 und 212 des Strafgesetzbuches nicht herum. Es ist wahrscheinlich, dass mindestens in einem der beiden Staatsexamina dies Gegenstand einer Prüfungsklausur ist.
Auch die höchstrichterliche Rechtsprechung befasst sich in bemerkenswerter Regelmäßigkeit mit Mord und Totschlag. Zuletzt erging eine prominente Entscheidung des BGH, die Gegenstand des vorliegenden Beitrags ist. In seinem Urteil vom 20.06.2024, Az. 4 StR 15/24, beschäftigte sich der BGH zu Fragen der Heimtücke. Mal wieder.
Der Sachverhalt ist dankenswerterweise schnell zusammengefasst: Die Mutter einer Familie führt eine außereheliche Beziehung, das Ehrgefühl des Sohnes ist dadurch belastet. Es werde schlimm für ihn, sollte er die Beziehung zu der Mutter nicht beenden, teilte der Sohn dem Liebhaber unmissverständlich mit. Mehr oder weniger zufällig entdeckte der Sohn, als er sich auf dem Nachhauseweg mit dem Auto befand, den Liebhaber seiner Mutter mit einer weiblichen Begleitung auf dem Gehweg. Er bremste sein Auto ab, legte daraufhin den ersten Gang ein und fuhr mit durchgedrücktem Gaspedal und entsprechend laut aufheulendem Motor auf die beiden Personen zu. Bei der Kollisionen kam es bei der Frau zu leichten Verletzungen, beim Mann zu mittelschweren Verletzungen, die indes vollständig ausheilten.
Das Landgericht verurteilte den Sohn wegen versuchten Todschlags, weil - Achtung - das Mordmerkmal der Heimtücke nicht erfüllt gewesen sei. Ein Erfolg für die Verteidigung, lautete die Anklage doch auf versuchten Mord. Man freute sich allerdings nur solange bis die Staatsanwaltschaft Revision einlegte. Diese war nämlich im Ergebnis erfolgreich.
Der BGH nimmt das Mordmerkmal der Heimtücke an, wenn der Täter in feindlicher Willensrichtung die Arg- und die dadurch bedingte Wehrlosigkeit des Tatopfers bewusst zu dessen Tötung ausnutzt. Nach Ansicht des Landgerichts schließt das Aufheulen des Motors die Arglosigkeit der Tatopfer allerdings aus. Das Bewusstsein, die Arg- und Wehrlosigkeit auszunutzen liege gerade nicht vor, weil der Täter ja davon ausgehen musste, dass die Tatopfer sein Fahrzeug aufgrund der lauten Geräusche bemerken mussten.
Der BGH argumentiert genau in die entgegengesetzte Richtung. Dadurch, dass sich die Tatopfer gerade nicht nach dem Fahrzeug umdrehten, dränge sich die Arg- und Wehrlosigkeit geradezu auf. Bemängelt wird insbesondere die landgerichtliche Einschränkung auf die Umstände, welche lediglich die Wahrnehmungssituation der Tatopfer betreffen. Vielmehr komme es zusätzlich darauf an, dass der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit "in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinne erfasst, dass er sich bewusst ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen".
Das Urteil des BGH wird nicht nur durch hiesigen Beitrag auf Kritik stoßen. Die Kritik des Verfassers liegt in erster Linie darin begründet, dass der BGH hier ein Zufallselement einfügt, dass im Ergebnis zwischen lebenslanger Freiheitsstrafe (Mord) oder eben nur mindestens fünf Jahre Freiheitsstrafe (Totschlag) entscheidet (Anmerkung: Dies ist losgelöst vom vorliegenden Sachverhalt, in dem es ohnehin nur um einen Versuch ging). Hätten sich die Tatopfer nämlich nach dem Fahrzeug umgedreht, käme der BGH mit vorgeschlagener Argumentation nicht mehr umher, nur wegen Totschlags zu verurteilen, denn dann kann das Ausnutzungsbewusstsein der hilflosen Lage unter keinen Gesichtspunkten mehr angenommen werden. Auf die Spitze getrieben hängt die Strafe davon ab, ob sich das Tatopfer umdreht, oder eben nicht.
Die Anzahl der Gründe sich nicht umzudrehen, wenn man laute Motorengeräusche wahrnimmt, gehen jedoch gegen Unendlichkeit. Zu berücksichtigen wären dann auch äußere Umstände wie die allgemeine Verkehrssituation, der allgemeine Lautstärkepegel und sicherlich auch die Tatsache, ob es sich um Tages- oder Nachtzeit handelt. Nachts im Dunkeln auf einsamer Straße wird man sich bei lauten Motorengeräuschen eher umdrehen als tagsüber, wenn ohnehin ein höherer Lautstärkepegel herrscht.
Je mehr zufallsabhängige Faktoren zu berücksichtigen sind, desto höher ist die Gefahr einer uneinheitlichen Rechtsprechung, was rechtspolitisch indes gerade verhindert werden soll.
Im Ergebnis sympathisiere ich nach alledem mit der landgerichtlichen Entscheidung, hier darauf abzustellen, dass der Täter damit rechnen musste, dass sich die Tatopfer aufgrund des Lärms nach dem Fahrzeug umsehen und folglich nicht mehr arglos sind. Doch auch hier muss gesehen werden, dass das Damit-Rechnen-Müssen gehört zu werden vollständig situationsabhängig ist.
Ein elendes Dilemma, doch entschieden werden muss die Sache nunmal. Mordmerkmale sind restriktiv auszulegen. So lernt man es bis zum Erbr… im Studium. Vielleicht hilft es hier ja weiter.
Der BGH hat die Sache zur Entscheidung an eine andere Kammer des Landgerichts zurückverwiesen. Man darf gespannt sein, wie nunmehr entschieden wird.
Rechtsanwalt S. Zander
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